Menschen mit Behinderungen

Leave no one behind! Inklusion von Menschen mit Behinderung stärken –
Sanchar ist Partner der Indienhilfe beim neuen Programm „Moving Ahead“

(Corinna Wallrapp, Weihnachtsinfo 2023)

Mit verbundenen Augen steht Mitra M., Mitarbeiterin unseres Partners Hijli Inspiration, vor einem Tablett mit gefüllten Teetassen, zögerlich streckt sie ihre Hand Richtung Tasse. Ihre Aufgabe klingt einfach: Verteile die Teetassen an die anderen Personen im Raum! Doch wie viele Personen sind es? Wo stehen sie? Sind die Tassen sehr voll? Wie soll ich sie verteilen, ohne etwas auszuschütten? Mitra nimmt an einer Schulung unseres Projektpartners Sanchar teil und soll erfahren, wie sich das Leben für blinde Menschen anfühlt.

Im April 2023 konnten wir mit Moving Ahead ein wichtiges neues Programm mit unserer auf Inklusion  spezialisierten Partnerorganisation Sanchar (s. Kasten) starten. Ermöglicht wird das von der Schöck-Familien-Stiftung gGmbH, die für zwei Jahre die Finanzierung bewilligt hat. In diesen zwei Jahren trainiert Sanchar vier unserer Partnerorganisationen1 und unterstützt sie dabei, Maßnahmen zur Inklusion von Menschen mit Behinderungen in ihre Projektarbeit und ihre Organisationsstruktur zu integrieren.

Seit fast zwei Jahrzehnten finanziert die Indienhilfe gemeindebasierte Behindertenarbeit. Im Coronajahr 2020 nahmen die Indienhilfe-Teams Herrsching und Kolkata und alle Projektpartner an einer viertägigen Online-Fortbildung zu Inklusivem Projektmanagement durch eine Trainerin der Christoffel-Blindenmission2 teil. Seither verfolgen wir das Ziel, Inklusion – nicht nur von Kindern – als Querschnittsaufgabe in allen Projekten und mit allen Partnern aufzugreifen.

Behinderung ist nach wie vor ein schambehaftetes Tabu. Menschen mit Behinderung werden von ihren Familien oft in den eigenen vier Wänden isoliert und von der Außenwelt abgeschottet. Armut und Behinderung bedingen sich oft gegenseitig: Menschen, die in Armut leben, sind einem höheren Risiko ausgesetzt, eine Behinderung zu haben, und diese macht es wiederum sehr schwierig, der Armut zu entfliehen. Bestehende Angebote für Menschen mit Behinderung sind eher in den großen Städten zu finden und für SlumbewohnerInnen und ländliche Bevölkerungsschichten in prekären Verhältnissen mit geringer Bildung schwer zugänglich. Kinder wie Erwachsene mit Behinderungen sind vom gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben weitgehend ausgegrenzt und vermehrt von Diskriminierung und (auch sexueller) Gewalt betroffen. Zugleich kennen viele Menschen mit Behinderung ihre Rechte und Ansprüche nicht bzw. sind nicht in der Lage, diese einzufordern. Mit Sanchar hat die Indienhilfe einen idealen Partner, um Inklusion in den Partnerorganisationen und unseren Projekten voranzutreiben.

Seit April diesen Jahres wurde im Projekt Moving Ahead bereits einiges umgesetzt: erste Vor-Ort-Besuche und Bedarfsanalysen in den vier Projektgebieten durch Sanchars ExpertInnen, kombiniert mit ersten Trainings für MitarbeiterInnen, schärften deren Wahrnehmung von Menschen mit Einschränkungen. In allen Projektgebieten gibt es Kinder mit Entwicklungsverzögerungen und speziellen Bedürfnissen, die bisher nicht systematisch erfasst und angemessen gefördert werden konnten. Hier ist die Sensibilisierung der MitarbeiterInnen ebenso gefragt wie das Wissen über vorhandene Unterstützungsprogramme und Institutionen für die medizinische und therapeutische Versorgung der Kinder. Aufklärung zu Rechten und Umgang mit Stigmatisierung in Familie und Gesellschaft werden in den nächsten Wochen in intensiven Trainings von Sanchar aufgegriffen.

Sanchar Sign Language Class
Sanchar-Mitarbeiterin Priyanka G., selbst gehörlos, unterrichtet ganz selbstverständlich KollegInnen in Gehörlosen-Sprache. Für sie ist ihr Nicht-Hören-Können einfach eine „Eigenschaft“. © IH

Als nächster Schritt ist die grundsätzliche Einbeziehung von Inklusion in die Maßnahmenplanung bei allen beteiligten Projekten zentral für das Moving-Ahead-Konzept. Für das indische Finanzjahr 2024-25 sollen alle beteiligten Partner projektspezifische Maßnahmen zur Förderung von Inklusion identifizieren, z.B. Kampagnen in den Familien und Gemeinden, Unterstützung bei der Beantragung von Behindertenausweisen und staatlichen Förderungen (z.B. für Rollstühle, Prothesen, Brillen etc.) oder Bereitstellung von Informationen zu therapeutischen Angeboten. In den Projekt Lernzentren soll der Blick für Kinder mit Auffälligkeiten geschärft werden, um ihnen individuelle Unterstützung anbieten zu können. Aber nicht nur die Indienhilfe-finanzierten Projekte und deren Zielgruppen sollen von Moving Ahead profitieren – ein Umdenken innerhalb der gesamten Organisation und – noch viel wichtiger – ein Umdenken in der umgebenden Gesellschaft sollen angestoßen werden, um dem Ziel „Leave no one behind!“ näher zu kommen.

Wir danken der Schöck-Familien-Stiftung sehr, die im Rahmen von Moving Ahead die Trainings und die Beratung bei der Entwicklung jeweils eigener Lösungen für zunächst zwei Jahre finanziert. Für die personalintensiven Maßnahmen zur verbesserten Inklusion von Menschen mit Behinderungen in allen Projektgebieten sind wir jedoch weiterhin dringend auf Spenden angewiesen, insbesondere für erforderliche zusätzliche MitarbeiterInnen!

Projektkosten „Community Based Rehabilitation“ 2023/24: etwa 30.000 €
Stichwort: Behindertenarbeit/Inklusion

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FN 1: Hijli Inspiration, Kajla Jana Kalyan Samity (KJKS), Lake Gardens Women & Children Development Centre, Seva Kendra Calcutta (SKC)
FN 2: CBM, Bensheim, mehr zum Thema unter https://www.cbm.de/informieren/armut-und-behinderung.html


Sanchar – unsere Experten für Inklusion

Junge engagierte SonderpädagogInnen um den leider bereits verstorbenen Gautam Chaudhury gründeten 1990 in Kolkata den Verein Sanchar, heute geführt von Tulika Das, Mitstreiterin der ersten Stunde. Sanchar setzt sich für Rechte und gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen insbesondere in Slums und ländlichen Gebieten im Sinne der SDGs ein (UN-Nachhaltigkeitsziel SDG 10/“Leave No One Behind“ – s. https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/nachhaltigkeitspolitik/weniger-ungleichheiten-1592836) und hat sich zum Ziel gesetzt, zu einer Veränderung der sozial-gesellschaftlichen Strukturen beizutragen, damit Menschen mit Behinderungen respektiert und in allen Lebensbereichen gleichberechtigt einbezogen werden. Der in vielen Ländern der Welt etablierte Ansatz nennt sich „Gemeindenahe inklusive Entwicklung“ (Community Based Inclusive Development). Neben medizinischen Aspekten und Zugang zu Hilfsmitteln geht es dabei um Stärkung des familiären Umfelds, Bildung, Förderung der Existenzsicherung und einen allgemeinen sozial-gesellschaftlichen Wandel: Das Thema Behinderung soll nicht aus dem Alltag verbannt, sondern in Familie und Gesellschaft integriert werden. Sanchar bietet Organisationen in ganz Indien Beratung und Trainings an und setzt selbst Inklusions-Programme um. Seit 2016 arbeitet die Indienhilfe im Howrah-Distrikt mit Sanchar zusammen, mit Schwerpunkt auf Kindern mit Behinderung aus benachteiligten Bevölkerungsgruppen, teil finanziert seit 2019 durch das Deutsche Katholische Blindenwerk, DKBW. Mehr zum Projekt unter hier. Dabei lebt Sanchar Inklusion in der eigenen Organisation vor: Die gehörlose Priyanka G. und der blinde Raman K. sind gleichwertige Mitarbeitende im Projekt-Team, bei Besprechungen ist es selbstverständlich, dass mit Gebärdensprache übersetzt wird,bzw. Präsentationen vorgelesen werden. So sieht gelebte Inklusion aus! (s.a. https://Sanchar-india.in/programme-unit-community-based-inclusive-development/)

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Info-Kasten Sanchar als pdf-Datei

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Wie unsere Projektpartner die Nutzung staatlicher indischer Hilfsprogramme befördern:
Beispiel SANCHAR und unser Projekt für Kinder mit Behinderungen

(Astrid Kösterke, Weihnachtsinfo 3-2022)

Indien bietet eine Vielzahl staatlicher Sozialleistungen. Aber gerade den bedürftigsten Menschen fehlt es oft an Informa­tion, Bildung und Selbstvertrauen, um sie zu beantragen und einzufordern. Deshalb ist es ein Anliegen aller unserer Pro­jektpartner, über passende Angebote zu informieren, bei der oft aufwändigen Beantragung zu helfen und, wenn nötig, auch dabei, Ansprüche durchzusetzen.

Erstmals 2020 haben wir für unsere Projekte gründlicher untersucht, in welchem Umfang dies tatsächlich geschieht. Das Ergebnis hat uns beeindruckt: Die Zuwendungen aus staatlichen Programmen im indischen Finanzjahr 2019-20 beliefen sich bei den fünf beteiligten Projekten auf über acht Millionen Euro für etwa 34.000 Personen/Familien. Aus ei­nem Spenden-Euro konnten durchschnittlich 57 Euro aus den staatlichen indischen und westbengalischen Hilfsprogrammen „generiert“ werden – eine beachtliche Hebelwirkung1!

Mein aktueller Beitrag soll zeigen, wie die Nutzung der För­dertöpfe speziell die Lebenssituation von Kindern mit geisti­gen und/oder körperlichen Beeinträchtigungen und ihrer Familien verbessert und die „Hebelwirkung“ wesentlich dazu beitragen kann, einen positiven Kreislauf in Gang zu setzen. Nicht zu vergessen die präventive Wirkung, die z.B. Maß­nahmen für Schwangere und Stillende in Bezug auf das Auftreten von Behinderungen haben.

Workshop für Anganwadi Worker
Sensibilisierungs-Workshop für Anganwadi Workers (in staatl. Mutter-und-Kind-Zentren für Gesundheit, Ernährung, Vorschulaktivitäten, Verhütungsberatung, Schwangere und stillende Mütter zuständig)  © Indienhilfe

Staatliche Programme zur Armutsbekämpfung sind beispiels­weise finanzielle Unterstützung bei Haus- und Toilettenbau, Förderung von Schulbesuch und weiterführender Bildung, insbesondere von Mädchen, Ernte-Versicherung für Klein­bauern, Arbeitsbeschaffungsprogramme, die Bereiche Gesundheit, Soziales, Pensionen, Lebensmittelhilfen, Bei­hilfen zu Klinikgeburten sowie Programme für Menschen mit Behinderungen. Mit letzteren kennt sich unsere Partner­organisation SANCHAR besonders gut aus, mit der wir das Projekt „Inclusion of Children with Disabilities in Mainstream Society as Equals“ in fünf Kommunen im Panchla Block des Howrah Distrikts westlich von Kolkata durchführen. SANCHAR sorgt zum einen für eine direkte Verbesserung des täglichen Lebens behinderter Kinder, zum anderen arbeitet die Organisation intensiv daran, die Gesellschaft für die Situation und besonderen Bedarf bei Behinderungen zu sensibilisieren, der oft noch zu spürenden Stigmatisierung entgegenzuwirken und die Beteiligung am gesellschaftlichen Leben zu fördern2. Dazu gehört auch die Einbeziehung der örtlichen Verwaltungen und Institutionen, z.B. Trainings und Gespräche mit Bürger­meisterInnen, Lehrkräften, MitarbeiterInnen staatlicher Gesundheits- und Mutter-und-Kind-Zentren oder Polizei­stationen zum Thema Inklusionsmaßnahmen. Die Entfernung zu den staatlichen Gesundheitszentren ist groß, was deren Besuch erschwert. So setzt sich SANCHAR bei den ent­sprechenden Behörden für eine Verbesserung der Gesund­heitsversorgung ein. Wie sehr die Arbeit von SANCHAR in der Region geschätzt wird, zeigt sich auch daran, dass die Mit­arbeiterInnen von den örtlichen Verwaltungen als ExpertInnen zu Beratungen hinzugezogen werden, beispielsweise wenn es um mehr Straßensicherheit für Menschen mit Behinderung geht. Generell werden Eltern und Kinder ermutigt, Kontakt mit anderen aufzunehmen und an gemeinsamen Programmen sportlicher, kultureller oder religiöser Art teilzunehmen, um Isolation und Ausgrenzung zu überwinden.

Am Beispiel unseres Projekts möchten wir aufzeigen, wie neben der individuellen Betreuung durch die Projekt-MitarbeiterInnen staatliche Hilfsprogramme bedürftigen Familien mit behinderten Kindern zusätzliche langfristige Unterstützung bieten, die ihr Leben positiv verändert. Durch die wöchentlichen zeitintensiven Hausbesuche bildet sich rasch ein Vertrauensverhältnis zwischen Angehörigen und Sanchar-MitarbeiterInnen aus, sodass sich im Gespräch herausfinden lässt, ob die Familie Anspruch auf subventio­nierte Lebensmittel hat und über die dafür notwendige Ration Card verfügt, ob sie eine Disability Certificate Card für ihr behindertes Kind besitzt, welche zu spezifischen staatlichen Leistungen berechtigt. Familien mit spastisch gelähmten Kindern (Zerebralparese) erhalten beispielsweise neben der psychotherapeutischen Betreuung durch die Projektmitar­beiterInnen auch Anleitung, eine Gehhilfe über ein Regie­rungsprogramm finanzieren zu lassen und dann korrekt zu nutzen. Mit den Angehörigen werden bei den Hausbesuchen Ideen entwickelt, wie die Kinder im Alltag besser am Fami­lienleben beteiligt werden können. Kindern mit Gehör-Beein­trächtigung und ihrer Familie wird z.B. die Zeichensprache beigebracht, sofern es der geistige Entwicklungsstand des Kindes zulässt (geistige Behinderungen sind mit etwa 40 % die häufigste Einschränkung, oft gibt es Mehrfach-Behinde­rungen). Erwähnenswert auch ein Pre-Matric Scholarship for Students with Disability, für das sich SchülerInnen der 8. und 9. Klasse mit 40-prozentigem Behinderungsgrad aus bedürf­tigen Familien bewerben können. Sie erhalten monatliche Unterhaltszahlungen, einen Zuschuss für Schulbücher und einen behinderungsbezogenen jährlichen Zuschuss. Mindes­tens 50 % der Stipendien müssen an Mädchen gehen3.

All diese Maßnahmen entfalten ihre Wirkung jedoch erst dann richtig, wenn das Grundbedürfnis auf ausreichende Ernährung gesichert ist: So hat sich SANCHAR in Zeiten des Corona-Lockdown darum gekümmert, dass bedürftige Familien eine „Ration Card“ für Nahrungsmittel-Zuteilungen der Regierung bekommen, neben der direkten Hilfe aus den Sonderzah­lungen der Indienhilfe für Lebensmittel (ca. 55 Familien) wäh­rend der Pandemie4.

Die untenstehende Tabelle listet von Sanchar vermittelte Hilfsprogramme bzw. dafür erforderliche Registrierungen auf und zeigt, dass sich die Zahl der nutzenden Personen von 2020 auf 2022 mehr als verdoppelt hat, von 63 auf 138. Ein schöner Erfolg! Besonders erfreulich, dass sich die Zahl der Personen mit Behindertenausweis verfünffacht hat, weil dieser den Zugang zu den Programmen erst ermöglicht.

Alle Maßnahmen und Aktivitäten der geschulten Mitar­beiterInnen von SANCHAR haben ein gemeinsames Ziel: Familien mit Kindern mit Beeinträchtigung ein besseres Leben zu ermöglichen, sei es durch direkte Arbeit mit den Familien, durch Zusammenarbeit mit den regionalen Behör­den und Institutionen oder die Nutzung der staatlichen Hilfsprogramme.

Hilfsprogramme speziell für Menschen mit Behinderung Maßnahme / Ziel

Anzahl Personen

2022*

Anzahl Personen

2020*

durchschnittlicher Betrag (Angaben nicht immer möglich)
Disability Certificate Card - s.a. https://www.india.gov.in/spotlight/unique-disability-id Behindertenausweis als Voraussetzung für spezifische staatliche Leistungen 50 11 Berechtigungsnachweis für Vergünstigungen aller Art
Manabik Pension Scheme der Regierung von Westbengalen seit 2018, s. https://scholarshiparena.in/manabik-pension-scheme/ Zahlung einer Unterhaltsbeihilfe bei 50-prozentiger Behinderung und geringem Einkommen 40 28 1000 Rs/Monat, ca. 150 € pro Jahr
Indische Regierung: Assistance to Disabled Persons for Purchase/ Fitting of Aids and Appliances (ADIP) s. https://disabilityaffairs.gov.in/content/page/adip.php Hilfsmittel für Behinderte, z.B. Gehhilfen oder Beinschienen für Kinder mit spastischen Lähmungen, Hörgeräte, Brillen 24 9 Kostenzuschüsse, Berechtigung abhängig vom Behinderungsgrad
Schulstipendium der indischen Regierung: Pre Matric Scholarship for Students with Disability Erleichterung des Schulbesuchs für Mädchen mit Sehbehinderungen, z.B. Schulwegbegleitung 16 12 zwischen 100 und 600 Rs pro Monat, ca. 15 bis 90 € pro Jahr
Med. Vorsorgeprogramm der indischen Regierung für Kinder - RBSK – Rashtriya Bal Swasthya Karyakram s. https://nhm.gov.in/index1.php?lang=1&level=4&sublinkid=1190&lid=583 Vorsorge-Untersuchungen für Kinder (0-18) auf Geburtsfehler, Krankheiten, Ernährungszustand, Entwicklungsrückstand 8 3 kostenlose Behandlung
Summe: . 138 63  
* alle Angaben von SANCHAR. Ob dies in beiden Jahren teils dieselben oder jeweils nur neu registrierte Kinder/Familien sind, konnte aktuell nicht überprüft werden.
Online-Registrierungen für PAN und Ration Card, als Voraussetzung für weitere genutzte Programme, auch unabhängig von Behinderung (einige Beispiele):
PAN Card (Permanent Account Number) Auch zum Nachweis der Identität und des Alters genutzter Ausweis der indischen Einkommenssteuer-Behörde mit individuellem Code für Finanztransaktionen mit dem Ziel, Steuerhinterziehung zu bekämpfen; Vorlage wird auch für andere behördliche und juristische Vorgänge verlangt
Ration Card s. https://en.wikipedia.org/wiki/Ration_card_(India) Berechtigung für monatliche Grundnahrungsmittel

Swachh Bharat Mission – Grameen (Bekämpfung der Defäkation im Freien)

Toilettenbau vor allem in ländlichen Regionen, Hygieneförderung, Sicherheit für Frauen, kürzere Wege für Kinder und Erwachsene mit Gehbehinderungen
Kanyashree Förderung des (weiterführenden) Schulbesuchs von Mädchen
Sabuj Sathi Prakalpa Finanzierung von Fahrrädern für Mädchen, die zur Schule gehen

Projektkosten 2022/23: 42.000 €
Stichwort: Behindertenarbeit

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(1) siehe Bericht im Herbst-Info 2020 unter https://www.indienhilfe-herrsching.de/Regierungsprogramme-Indien
(2)siehe Berichte auf unserer Website: https://indienhilfe‑herrsching.de/Menschen-mit-Behinderungen
(3) Übersicht über das Stipendienprogramm für behinderte SchülerInnen: https://scholarships.gov.in/public/schemeGuidelines/DEPDGuidelines.pdf
(4) Zum Thema Unterernährung siehe Beitrag über unseren Projektpartner KJKS
 

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„Er hat so viel gelernt in letzter Zeit!”
Unser Partner Sanchar setzt sich für die Inklusion von Menschen mit Behinderungen ein

(Sabine Jeschke / Sarah Well-Lipowski, Herbstinfo 2020)
 

Die Mutter füttert Imran
Liebevoll füttert die Mutter Imran, der mittlerweile seinen Kopf in
der Sitz-Hilfe selbstständig halten kann. ©: IH/Sanchar

„Er geht jetzt mit den anderen Kindern in den Kindergarten!“ berichtet Hamida Begum stolz über ihren dreieinhalbjährigen Enkel Imran. Dies ist keine Selbstverständlichkeit für den Jungen mit zerebraler Kinderlähmung, der große Schwierigkeiten hat, seinen Kopf selbst zu halten und Nahrung zu schlucken. Sein Vater arbeitet in der Stadt und kommt nur alle zwei Wochen zu seiner Familie ins Dorf Panchla. Imrans Mutter, eine sehr schüchterne junge Frau, gibt sich die Schuld für Imrans Behinderung und traut sich vor Scham kaum aus dem Haus. Es ist die Großmutter Hamida Begum, die das Sagen im Haus hat und die Betreuung Imrans übernommen hat. Im Juni 2018 lernen die Mitarbeiter unseres Partners Sanchar, der sich auf die Förderung von Kindern mit Behinderungen spezialisiert hat, die Familie kennen. Sehr schnell wird klar, dass sie die Großmutter ins Boot holen müssen, um mit Imran therapeutisch arbeiten zu können. Anfangs ist Hamida skeptisch, doch nachdem sie eine Weile an den wöchentlichen Therapie-Sitzungen mit ihrem Enkel teilgenommen und einfache Übungen erlernt hat, die sie selbst mit Imran zu Hause machen kann, stellt sie erste Veränderungen fest: Imrans Kopfbewegungen werden kontrollierter und er verschluckt sich nicht mehr so häufig. Dieser Fortschritt motiviert auch Imrans Mutter und beide Frauen lernen dankbar von den Sanchar-Mitarbeitern, wie sie zu Hause mit Imran üben und ihn fördern können. Mittlerweile besucht Imran das lokale ICDS-Zentrum1, anfangs in Begleitung seiner Großmutter. Seit diesem Jahr hat er dort eine spezielle von Sanchar konstruierte Sitzhilfe mit Kopfstütze, die ihm das selbstständige Sitzen ermöglicht. Mit den anderen Kindern interagiert er fröhlich. Auch Imrans Mutter ist offener geworden – durch intensive Beratungsgespräche mit dem Sanchar-Team lernt sie schrittweise, die Behinderung ihres Sohnes zu akzeptieren und die Schuld dafür nicht bei sich zu suchen.

Home visit CBR
Nach dem Cyclon Amphan informieren sich Sanchar-Mitarbeiter über die Schäden der Familien, die sie betreuen ©: IH/Sanchar

Imran ist nur eines der 50 Kinder mit Behinderungen, um die sich Sanchar in fünf Gram Panchayats (Kommunen) im Howrah-Distrikt kümmert, um ihnen ein möglichst eigenständiges Leben und die Teilhabe an der Gesellschaft, vor allem durch Integration in Kindergärten und Schulen, zu ermöglichen. Dabei ist es den Mitarbeitern wichtig, die Familien in die Förderung der Kinder einzubeziehen und ihnen einfache Übungen zu zeigen, die mit den Kindern daheim gemacht werden können. Ein Vorgehen, das sich gerade jetzt zu Corona-Zeiten sehr bewährt hat. Während des strikten Lockdowns im März und April 2020 hielten die Sanchar-Mitarbeiter telefonisch Kontakt mit den Familien, motivierten sie zu regelmäßigen Übungen mit ihren Kindern, beantworteten Fragen und klärten über die notwendigen Hygiene-Maßnahmen zur Vermeidung einer Corona-Infektion auf. Die Familien, mit den Übungen ihrer Kinder vertraut, konnten so weiterhin mit den Kindern arbeiten und wussten, wie sie sie im Alltag fördern und einbeziehen können. Weil das Projektgebiet von Sanchar leider immer noch als „rote Zone“ mit sehr vielen Corona-Infektionen klassifiziert ist, sind Hausbesuche nach wie vor schwierig. Doch wann immer es möglich oder ihre persönliche Anwesenheit unabdingbar ist, besuchen die Mitarbeiter unter Einhaltung von Hygiene- und Sicherheitsmaßnahmen die Familien wieder zu Hause. Auch die enge Zusammenarbeit mit den staatlichen Stellen, die von Sanchar immer wieder auf die Rechte von Menschen mit Behinderungen aufmerksam gemacht werden, zahlte sich in den letzten Monaten aus. Nachdem viele Tagelöhner-Familien ihre Arbeit durch die Ausgangsverbote verloren und der Zyklon Amphan im Mai 2020 viele Häuser und Felder ruiniert hatte, sorgte Sanchar dafür, dass die bedürftigsten Familien schnell in die staatlichen Hilfsprogramme aufgenommen wurden (z.B. für die Versorgung mit Plastikplanen zum Abdecken der zerstörten Häuser, für den Wiederaufbau von Toiletten, für die Notverpflegung), ergänzt durch die Notfallhilfe der Indienhilfe (siehe Beitrag zur Coronahilfe hier).

Als weiteren Aspekt der Arbeit haben wir 2020 die besondere Unterstützung von Menschen mit Sehbehinderung aufgenommen, angeregt und finanziert durch das Deutsche Katholische Blindenwerk. Im ganzen Panchla-Block mit seinen 11 Gram Panchayats (Kommunen) und 252.000 Einwohnern sollen flächendeckend Sehtests durchgeführt werden, um Menschen mit Sehbehinderung ausfindig zu machen und sie dann mit notwendigen Hilfsmitteln und medizinischer Behandlung zu versorgen und ihre gesellschaftliche Integration zu fördern. Aufgrund der aktuellen Lage mit vielen Covid-19-Erkrankungen in der Region konnten allerdings die Tests bisher noch nicht beginnen.

Home Schooling im CBR
Home Schooling mit gehörlosem Jungen  ©: IH/Sanchar

Mit Sanchar haben wir einen qualifizierten Partner, der sich in 17 indischen Bundesstaaten für die Rechte von Menschen mit Behinderung einsetzt.2 Seit der Gründung 1988 bindet Sanchar an seinen Projektstandorten unter dem Motto „Inklusion statt Exklusion – gleiche Rechte für Alle“ Menschen mit Behinderungen, ihre Angehörigen und Selbstvertretungsorganisationen ein. Dabei wird die weltweit anerkannte Strategie Community Based Rehabilitation (CBR) angewandt. Gemeindenahe Rehabilitation bedeutet Zugang zu Gesundheits- und Bildungseinrichtungen, Ämtern, Lebenssicherung durch Arbeit oder staatliche Unterstützung für Menschen mit Behinderung vor Ort. Das Thema Behinderung soll nicht aus dem Alltag verbannt, sondern in Familie und Gesellschaft integriert werden.

Im Rahmen unseres Projekts mit Sanchar steht die bestmögliche Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung im Mittelpunkt. Doch auch in unseren anderen Projekten gibt es natürlich Kinder mit Entwicklungsverzögerungen und speziellen Bedürfnissen, die bisher nicht systematisch identifiziert und speziell betreut und gefördert werden. Um das Augenmerk unserer Partner für diese Kinder zu schärfen und auch uns selbst für das Thema Inklusion zu sensibilisieren, haben wir Anfang November einen viertägigen deutschindischen Online-Workshop mit einer erfahrenen Trainerin der Christoffel-Blindenmission zu „Inklusivem Projektmanagement“ organisiert, an dem alle IH-Mitarbeiterinnen sowie ausgewählte MitarbeiterInnen aller indischen Partnerorganisationen teilnahmen. Neben den rechtlichen Rahmenbedingungen (UN-Behindertenkonvention von 2006, Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030 etc.) und der  Bedeutung, die der Zusammenarbeit mit Behindertenorganisationen zukommt, wurde den Teilnehmern vermittelt, wie sie Unsicherheiten im Umgang mit Menschen mit Behinderungen abbauen können. Es wurden Barrieren identifiziert, die Menschen mit Behinderung den Zugang zum Projektangebot der Partner und zu einer gleichberechtigten gesellschaftlichen Teilhabe versperren. Wir lernten, Strategien zu entwickeln, um diese Barrieren abzubauen und Menschen mit Behinderung z.B. auch in das eigene Projektteam einzuschließen. Und wir diskutierten Möglichkeiten, Bedürfnisse und Wünsche von Menschen mit Behinderungen, insbesondere von Kindern, direkt bei der Planung von Entwicklungsprojekten zu berücksichtigen.

Das Thema Behinderung ist im ländlichen Indien nach wie vor ein Tabu, das mit Scham behaftet ist. Menschen mit Behinderung werden von ihren Familien oft in den eigenen vier Wänden isoliert und von der Außenwelt abgeschnitten. Armut und Behinderung bedingen sich gegenseitig: Menschen, die in Armut leben, sind einem höheren Risiko ausgesetzt, eine Behinderung zu haben und diese macht es wiederum sehr schwierig, der Armut zu entfliehen. Kinder wie Erwachsene mit Behinderungen sind vermehrt von (sexueller) Gewalt und Diskriminierung betroffen. In Zukunft werden wir in allen Projekten verstärkt darauf achten, Kindern mit Behinderung eine angemessene medizinische und therapeutische Betreuung zu vermitteln und gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe sowie ein Leben in Würde zu ermöglichen. Unser Workshop mit der Christoffel-Blindenmission soll dabei als Initialzündung dienen. Für die Zukunft planen wir mit Sanchar systematische Weiterbildungen für unsere Partnerorganisationen, um in allen Projekten dem Ziel „Leave no one behind!“ näher zu kommen.

Spendenstichwort: Inklusion/ Behindertenarbeit
Kosten im Jahr 2020: Projekt zur Integration von Kindern mit Behinderung Panchla Block mit Fortbildung zu Inklusivem Projektmanagement 43.000 €
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1Integrated Child Development Services – staatliche Mutter-Kind-Zentren für Schwangere, stillende Mütter und Kinder bis 6 Jahre mit Schwerpunkten Gesundheit, Ernährung, Schulvorbereitung
2 siehe Beiträge auf der Indienhilfe-Webseite Projekte/Menschen mit Behinderungen, insbesondere Artikel aus dem Sommer-16-Info


„Wann kommt mein Sanu wieder?“ Wie Kinder in unseren Projekten die Corona-Krise erleben (Frühjahrsinfo 2020)
(Sabine Jeschke)

„Er versteht nicht, was Corona ist und was draußen vor sich geht, aber sein Lächeln ist unsere Hoffnung, unser Antrieb in diesen Zeiten der Unsicherheit und Angst!“ fasst Anjali Shee die Situation der Familie zusammen. Ihr Mann ist Gelegen­heitsarbeiter bei einer örtlichen Fabrik, seit der Ausgangs­sperre verdient er nichts mehr. Ihr einziges Kind, der sechs­jährige Adrik, leidet an einer autistischen Entwicklungs­störung; seit 2018 betreut unser Projektpartner Sanchar1 die Familie im Dorf Bikihakola im Howrah Distrikt. Seither hat Adrik große Fortschritte gemacht und besucht mittlerweile die 1. Klasse der Grundschule, betreut von Sozialarbeiter Sanu Mukherjee. Auch wenn er das Corona-Virus nicht verstehen kann, spürt Adrik die Veränderungen, die Sorgen und Ängste der Erwachsenen: alle sind zuhause, die Schule ist geschlossen und nachmittags darf er nicht wie gewohnt mit seiner Mutter nach draußen. Am schwersten trifft es ihn, dass die sonder­pädagogischen Förderstunden mit Sanu wegen der Ausgangs­sperre ausfallen. Sobald es an der Tür klopft, steht Adrik am Fenster, in der Hoffnung, draußen seinen Lehrer zu sehen, und kehrt dann aufgebracht zu seiner Mutter zurück. Für sie ist es schwer, den hyperaktiven Jungen zu beruhigen. Am Telefon schlägt Sanu vor, gemeinsam mit Adrik zu malen. Anjali Shee greift den Vorschlag dankbar auf und nach und nach gesellen sich Cousins und Cousinen, Onkel und Tanten und die Groß­eltern, die alle im gleichen Haus leben, hinzu. Adrik genießt das Zusammensein, und die ande­ren, die oft wenig mit Adriks „seltsamem“ Verhalten anfangen konnten, gewinnen einen neuen Blick auf den Jungen und seine künstlerischen Fähig­keiten. Die tägliche Malstunde ist  für die Familie ein liebge­wonnenes Ritual geworden und die Sorgen um die Zukunft – die Ersparnisse sind bald aufgebraucht und wer weiß, wann der Vater wieder arbeiten gehen darf! – rücken für diese Zeit in den Hintergrund.

Adrik genießt die Zeit beim Malen mit seiner Familie
Adrik genießt die Zeit beim Malen mit seiner Familie ©: IH

Auch in den anderen Projektgebieten leiden Kinder besonders unter den Einschränkungen. In abgelegenen Adivasi-Dörfern, wie bei unserem Partner KJKS im Jhargram Distrikt, fällt es ihnen schwer, den ganzen Tag in den dunklen Lehm­hütten zu bleiben, die meist weder Fenster noch elektrisches Licht haben. Wenn sie nicht in der Schule oder unserem Nachhil­fe­zentrum sind, verbringen sie normaler­weise viel Zeit im Freien, helfen den Eltern, toben im Dschun­gel, spielen Ball. Ähnlich die Situation in den Slums, in denen LGW&CDC in Kolkata tätig ist. Dort, wo sich die kleinen Verschläge der Familien dicht an dicht drängen, spielt sich das Leben haupt­sächlich im Freien ab, Kochplätze und Wasserstellen nutzen mehrere Familien gemeinsam. In die engen Behausungen, oft kaum größer als ein Doppelbett, ziehen die Familien sich fast nur zum Schlafen zurück. Spielzeug gibt es in unseren Projek­ten fast nirgends, jetzt fehlen auch die Spielgefährten. Immer wieder entwischen die Kinder zum Spielen nach draußen – bis die Polizei sie, teils unter Androhung von Gewalt, wieder in die Häuser jagt.

Gemeinsam mit unseren Partnern schauen wir besonders auf  die Situation der Kinder und arbeiten daran, die Ausgangs­sperre für sie erträglicher zu gestalten. In einem ersten Schritt haben Krippenerzieherinnen und Nachhilfe­lehrer mit den Kindern per Telefon Kontakt aufgenommen, um mit ihnen über die Situation zu sprechen, gemeinsam zu singen, Gedichte zu lernen etc. Weil die Schulen bis Septem­ber geschlossen bleiben und unklar ist, ob Nachhilfezentren und Kinderkrippen in den Projekten früher öffnen dürfen, überle­gen die Mitarbeiter, wie sie vor allem die first generation learners2 aus der Ferne unterstützen können. Digitaler Schul­unterricht wird in Indien jetzt zwar an einigen Privatschulen praktiziert, ist aber für den größten Teil der indischen Schüler nicht umsetzbar, schon gar nicht in unseren Projektgebieten.3 In einigen Projekten wurden die Kinder aufgefordert, zu verschiedenen Themen zu malen oder kurze Geschichten zu schreiben, die in den Zentren ausgestellt werden sollen.

Ein großes Problem für die Kinder ist der Wegfall des tägli­chen staatli­chen Mittagessens in den Schulen und ICDS-Zentren4 Zwar erhalten Familien als Ersatz zusätzliche Trocken-Rationen, die aber nicht ausrei­chen. Millionen Kinder in Indien leiden Hunger. In Zusam­menarbeit mit unseren Partnern und mit Hilfe Ihrer Spenden wollen wir die ärmsten Familien individuell und effizient unterstützen, sei es finanziell oder durch Nahrungs­mittel.

In den beengten Wohnverhältnissen bei Armut und Hunger ist die Gefahr häuslicher Gewalt und sexueller Übergriffe beson­ders hoch. Alle Projektpartner sind diesbezüglich gut ausge­bildet. Dazu nahmen sie kürzlich an einem internationalen Webinar unserer deutschen Dachorganisation VENRO teil, speziell für Corona-Situationen mit Ausgangssperren. Die Mitarbeiter versuchen, Vorkommnisse rasch zu erkennen, auch wenn dies ohne persönlichen Kontakt nicht leicht ist. (Immerhin ist auch die Polizei für das Problem mittlerweile sensibilisiert, wie unsere Kollegin Rusha Mitra in Kolkata selbst erlebte: als sie einen Passierschein beantragte, um ihren Eltern Einkäufe bringen zu können, war die erste Frage des Polizisten, ob sie denn aufgrund von häuslicher Gewalt zu ihren Eltern fliehen wolle. Hier hat die jahrelange Aufklä­rungsarbeit vieler NGOs Früchte getragen...).

1) Projekt „Gemeindenahe Rehabilitation behinderter Kinder“
2)
Kinder, die als erste in ihrer Familie eine Schule besuchen
3)
Nur 8 % der ind. Schüler haben zuhause Zugang zu Computer und Internet, mehr Jungen als Mädchen. Von den ärmsten 20 % der Haushalte sind es nur 2,7 %. S.a. https://scroll.in/article/960939/indian-education-cant-go-online-only-8-of-homes-with-school-children-have-computer-with-net-link
4) Integrated Child Development Services: Zentren für Schwangere, Stillende und Kinder bis sechs mit Schwerpunkt Gesundheit, Ernährung und Schulvorbereitung


Sanchar- Unsere Experten für Inklusion und Behindertenarbeit (Weihnachtsinfo 2019)

Sanchar klein
Freundschaftstag 2019 – Sujit bindet seiner Bürgermeisterin ein Rakhi-Bändchen um. (©: IH)

Sujits Mutter wollte nicht wahrhaben, dass ihr einziger Sohn taub ist. In Tempeln und Moscheen betete sie um ein Wunder. Ein Wunder geschah nicht, aber die Mitarbeiter unseres Partners Sanchar wurden 2016 auf Sujit aufmerksam. In unzähligen Beratungsgesprächen helfen sie der Familie, Sujits Taubheit zu akzeptieren und zu lernen, wie sie ihm zu einem möglichst normalen Leben verhelfen können. Auch mit den Lehrern der staatlichen Grundschule, die Sujit besucht, erarbeitet das Sanchar-Team Methoden, die ihm erlauben, dem Unterricht besser zu folgen. Heute ist Sujit ein fröhlicher neunjähriger Junge, der die indische Gebärdensprache lernt, gerne zur Schule geht und voller Begeisterung an den Kultur- und Sportveranstaltungen von Sanchar teilnimmt, die Menschen mit und ohne Behinderungen zusammenbringen.

Sujit ist eines von 207 Kindern mit Behinderung, die Sanchar in fünf Kommunen des Panchla Blocks im Howrah Distrikt identifiziert hat. Bei rund 50 Kindern führt Sanchar regelmäßig Hausbesuche durch, bei denen mit den Kindern und ihren Familien therapeutisch gearbeitet wird, um die Kinder nach einem individuellen Förderplan auf ein eigenständiges Leben vorzubereiten. Daneben organisiert Sanchar Infoveranstaltungen zu staatlichen und anderen Unterstützungsangeboten und hilft bei der Beantragung eines Behindertenausweises, ohne den es keine staatlichen Beihilfen und Hilfsmittel (wie Hörgeräte, Gehhilfen, Prothesen) gibt. Jede Gelegenheit wird zur Sensibilisierung von wichtigen Akteuren genutzt.

Wir wünschen uns, dass alle unsere Partner bei ihrer Arbeit Kinder mit Behinderungen besonders berücksichtigen. Sofern es unsere finanziellen Mittel erlauben, wird Sanchar ab 2020 alle Projektpartner entsprechend fortbilden.

Spendenstichwort: Behindertenarbeit
Benötigte Summe: 31.000 Euro


Sanchar: Perspektiven für behinderte Kinder durch ambulante Förderung (Frühjahrsinfo 2018)
(Sabine Jeschke)

„Sie sitzt!“ Die Eltern der vierjährigen Ishrat aus dem Dorf Sepaipara können es kaum fassen, dass ihre an den Folgen einer Kinderlähmung leidende Tochter aufrecht sitzen kann. Zu verdanken ist dies den Mitarbeitern unseres Partners Sanchar, die sich die gemeindenahe Inklusion von Menschen mit Behinderung zum Ziel gesetzt haben. Ishrats Großvater hatte bei einer Dorf­versammlung von Sanchars Aktivitäten erfahren. Nachdem sich das Team bei Hausbesuchen einen Eindruck von Ishrats Entwick­lungsstand verschafft hatte, erstellte es mit den Eltern einen Plan zur individuellen Förderung mit Physiotherapie und Einüben von Alltagstätigkeiten. Gleichzeitig besorgten die Mitarbeiter für Ishrat staatlich finanzierte Orthesen1. Inzwischen bewältigt Ishrat ihren Alltag zunehmend selbstständig und alle Familien­mitglieder wissen, was sie selbst kann und wie sie sie gegebenen­falls unterstützen können, ohne ihr die neugewonnene Eigen­ständigkeit zu nehmen.

Insgesamt kümmert sich Sanchar in fünf Kommunen des Panchla Blocks im Howrah-Distrikt um 208 Kinder mit geistigen und körperlichen Behinderungen. Jedes Kind hat einen individuellen Förderplan, nach dem die Mitarbeiter bei ihren wöchentlichen Hausbesuchen vorgehen, um die Kinder in der vertrauten Umge­bung für Selbstständigkeit fit zu machen. Dabei wird die Familie einbezogen und lernt, wie sie ihr Kind bestmöglich unterstützen kann. Durch Vorschulübungen und in enger Zusammenarbeit mit den Lehrkräften werden die Kinder mit Behinderung auf die Einschulung in die staatlichen Schulen vorbereitet und beim Schulbesuch begleitet. Für die Eltern finden regelmäßig Treffen statt, bei denen sie z.B. über den Zugang zu staatlichen Hilfs­programmen informiert werden, den Umgang mit Hilfsmitteln oder die Grundlagen der indischen Gebärdensprache lernen. Besonders wertvoll war für die betroffenen Eltern der Besuch eines anderen Dorfes, in dem Sanchar schon länger tätig ist. Dort lernten sie Eltern mit ähnlichen Problemen kennen und erfuhren, wie sich deren Situation durch die Unterstützung von Sanchar verbessert hat. Auch Ishrats Großvater nahm an solch einer Fahrt teil. Sein Fazit: „Nun habe ich neue Hoffnung für meine Enkel­tochter!“

1) Orthese - Hilfsmittel, das zur Stabilisierung, Entlastung, Ruhigstellung, Führung oder Korrektur von Gliedmaßen oder des Rumpfes eingesetzt wird


Sommerinfo 2016

Kinder mit Behinderungen und ihre Familien stärken – mit unserem neuen Partner SANCHAR

Der Weltbehindertenbericht 2011[1] ist der erste umfassende Bericht zur Situation von Menschen mit Behinderungen welt­weit. Er befasst sich mit ihren Bedürfnissen für eine gleich­berechtigte gesellschaftliche Teilhabe, mit den Arten, der Verbreitung und den Ursachen von Behinderung, entwickelt in allen Bereichen konkrete Empfehlungen. Als Orientierung für die Umsetzung der bahnbrechenden Behindertenrechts­konvention der Vereinten Nationen (UN BRK) von 2006, die Indien als eines der ersten Länder 2007 ratifiziert hat, will er Regierungen und Zivilgesellschaft dabei helfen, eine inklusive und unterstützende Gesellschaft zu schaffen, in der Menschen mit Behinderungen ihr Potential entfalten können. In einer gründlichen Analyse des aufwändig erhobenen Zahlen­materials kommt der Bericht zu einer Schätzung von weltweit über einer Milliarde Menschen mit Behinderungen (davon 110-190 Millionen mit starken Beeinträchtigungen). Das sind rund 15% der Weltbevölkerung. 80% der Behinderten leben in Entwicklungsländern. Unverhältnismäßig stark betroffene  Gruppen sind Frauen, Alte und unter dem Existenzminimum lebende Menschen. Auf Grund der unterschiedlichen Defini­tionen und der mangelhaften Erfassung[2] fehlen oft genaue Daten. So fanden wir z.B. keine belegte Angabe zur Zahl der behinderten Kinder (0-18 Jahre) in Indien. Indien plant jetzt einen indienweit gültigen elektronischen Behindertenausweis als nationale statistische Datenbasis und für einen korruptionsfreien Zugang zu den verschiedenen staatlichen Hilfen.

Purchasing
Das „field team“ (Außenmitarbeiter*innen) wurde mit Fahrrädern ausgestattet. „Community Mobilizer“ Shubham Mukherjee und „Field Workers“ Jasmina Khatun, Mousumi Khamrui,  Laxmi Ghosh (©: IH)

Menschen mit geistiger Behinderung und psycho-sozialen Erkrankungen, vor allem Frauen, sind besonders stigma­tisiert und schweren Menschenrechtsverletzungen ausge­setzt. Sie werden geschlagen, vergewaltigt, zwangssterilisiert und gegen ihren Willen in Einrichtungen untergebracht, die oft überfüllt, ohne ausreichend Personal und unhygienisch sind (keine Toiletten, Läuse usw.). In Indien werden Menschen mit Behinderungen teils noch als Strafe der Götter betrachtet. Sie werden oft komplett aus dem gesellschaftlichen Leben ausge­grenzt, in die Häuser verbannt oder gar ausgesetzt, den betrof­fenen armen Familien fehlt das Geld für Nahrung und Pflege. Armut ist Ursache und Folge von Behinderung. Die Beseiti­gung extremer Armut oder „Leave no one behind“ als zentrales Ziel der Agenda 2030 wird nicht möglich sein, wenn Menschen mit Behinderung nicht die Ausschöpfung ihres vollen Potentials ermöglicht wird, so Vinod Aggarwal, Secretary, Ministry of Social Justice and Empowerment in einem Interview mit The Indian Express. So manche Behinderungen könnten verhindert werden, wenn Frauen besser ernährt und vor, bei und nach der Geburt besser medizinisch versorgt würden. Unterernährte Frauen gebären unterernährte Kinder, die in der geistigen Ent­wicklung zurück bleiben, ein Teufelskreis. Menschen aus den unteren Gesellschaftsschichten (Dalits, Adivasis) mit Behinde­rungen sind zusätzlich benachteiligt. Sie sind oft völlig von Bildung ausgeschlossen und landen ohne entsprechende Qualifikation am untersten Ende der Lohnarbeit. Bei den Sozial­programmen des indischen Staates werden sie vor Ort oft nicht berücksichtigt. Die Arbeit für Kinder mit Behinderungen auf dem Land[3] ist für die Indienhilfe eine Herzensangelegenheit. Unser neuer Partner dabei heißt Sanchar.[4] Seit der Gründung 1988 bindet Sanchar an seinen Projektstandorten unter dem Motto „Inklusion statt Exklusion gleiche Rechte für Alle“ Menschen mit Behinderungen, ihre Angehörigen und Selbstver­tretungsorganisationen ein. Dabei wird die weltweit anerkannte Strategie Community Based Rehabilitation (CBR) ange­wandt. Gemeindenahe Rehabilitation bedeutet Zugang zu Gesundheits- und Bildungseinrichtungen, Ämtern, Lebens­sicherung durch Arbeit oder staatliche Unterstützung für Menschen mit Behinde­rung vor Ort. Das Thema Behinderung soll nicht aus dem Alltag verbannt, sondern in Familie und Gesellschaft integriert werden. Sanchar schlug für die zweijährige Pilotphase die elf Gram Panchayats (Kommunen) des Panchla Blocks im Howrah Distrikt mit seinen fast fünf Millionen Einwohnern vor (der Block umfasst außerdem sieben Städte). Seit Juni wurden geeignete Mitarbeiter*innen rekrutiert, erste Kommunen kontaktiert, ein Projektbüro angemietet, mit den Hausbesuchen bei den Familien mit behinderten Kindern begonnen, die erste Bürger­versammlung durchgeführt. Im nächsten Info werden wir im Detail berichten.

[1] Herunterladen unter https://www.cbm.de/static/medien/2012_Weltsichten_CBM_Inklusive_Entwick…

[2] Die Zahlen für Indien beruhen z.B. auf den alle zehn Jahre stattfindenden Volkszählungen. Erst 2011 wurden die Fragen zu möglichen Behinderungen breit genug gestellt und die Befrager besonders geschult. Die Auswertung liegt uns nicht vor.

[3] 75 Prozent der Personen mit Behinderungen leben auf dem Land

[4] Der Entscheidung für einen neuen Projektpartner geht immer eine Prüfung der fachlichen und organisatorisch-administrativen Kompetenz (sog. Prefunding Assessment) durch unsere indischen Fachleute, Wirtschaftsprüfer und Senior Project Consultant, voraus.


Wir wollen, dass behinderte Kinder bestmöglich gefördert
und in die Gesellschaft integriert werden
!

Bikasch web
Pushupati Mondal ist taub-stumm. Sein älterer Bruder hilft ihm liebevoll und geduldig bei den Hausaufgaben. Foto: Sabine Dlugosch

 

„Meist nehmen wir uns nicht genug Zeit für unsere behinderten Kinder. Wir stempeln sie als behindert ab, weil sie anders sind als die anderen Kinder und ihre Bedürfnisse nicht ausdrücken können. Ich musste auch erst lernen, die Stärken meiner Tochter zu erkennen.“ berichtet Debi Karmakar, deren zehnjährige Tochter Anna spastisch gelähmt und in ihrer geistigen Entwicklung zurückgeblieben ist. Lange Zeit kümmern sich die Eltern wenig um das Mädchen, sie kann tun und lassen, was sie will. Erst als die Mitarbeiter unseres Partners Bikash auf die Familie in dem abgelegenen Dorf Helnasusunia aufmerksam werden, ändert sich die Situation. Regelmäßig besuchen die Dorfmitarbeiter die Familie und helfen der Mutter, die Stärken und Schwächen ihrer Tochter zu identifizieren. Debi erkennt, dass ihre Tochter trotz Behinderung eine Reihe von Tätigkeiten eigenständig ausführen kann, z.B. essen und sich fortbewegen. Fortan nimmt Debi sich mehr Zeit für ihre Tochter und arbeitet intensiv mit ihr an den Übungen, die ihr die Bikash-Mitarbeiter zeigen. So hat Anna gelernt, selbst für ihre Körperpflege zu sorgen und zur Toilette zu gehen. Auch zur Schule geht Anna regelmäßig, sie kann inzwischen ihren Namen schreiben und bis 100 zählen.

Die Förderung von Kindern mit Behinderungen und Entwicklungsdefiziten ist gerade in den ländlichen Gegenden Indiens selten. Die Mütter, die für die Versorgung der Familie hart arbeiten müssen, haben wenig Zeit, auf die speziellen Bedürfnisse ihrer Kinder einzugehen und wissen meist nicht, wie sie damit umgehen sollen. Aus Scham und Angst vor Gerede im Dorf verstecken die Familien ihre behinderten Kinder oft. In 68 Dörfern im Bankura-Distrikt Westbengalens ist unser Partner Bikash darauf spezialisiert, behinderte Kinder in den abgelegensten Dörfern und aus den ärmsten Verhältnissen ausfindig zu machen, um ihnen durch optimale Förderung die gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Während die Kinder und Jugendlichen in den ersten Jahren zentral in den dörflichen Behindertenzentren betreut wurden, steht heute die individuelle Förderung in den Familien im Vordergrund. Einmal pro Woche besuchen die gut ausgebildeten Sozialarbeiter jede Familie, um mit einfachen Übungen, die auch von den Eltern durchgeführt werden können, die Kinder im gewohnten Lebensumfeld an ein möglichst eigenständiges Leben heranzuführen.

Zusätzlich zur Behindertenarbeit in den Dörfern betreuen Sonderpädagogen und Fachärzte über 90 schwer behinderte Kinder im Sonderpädagogischen Zentrum nahe der Stadt Bankura. Ein „Schulbus“ sammelt die Kinder aus den umliegenden Dörfern ein und bringt sie kostenlos ins Zentrum, um die Eltern, meist Tagelöhner, zu entlasten. Seit September 2010 stehen auch 15 Plätze für Kurzzeit-Pflege zur Verfügung. Momentan sind dort 10 behinderte Jugendliche untergebracht, die an Ausbildungskursen (z.B. im Nähen, in der Sari-Stickerei) teilnehmen. Die anderen 5 Plätze stehen für Notfälle zur Verfügung, wenn z.B. Eltern aufgrund von Krankheiten oder Todesfällen in der Familie kurzfristig nicht für ihr behindertes Kind sorgen können.

Wie in allen Projekten ist auch hier die Zusammenarbeit mit den staatlichen Stellen wichtig. So unterstützt Bikash die Familien bei der Beantragung eines Behindertenausweises, der die Voraussetzung für andere staatliche Zuschüsse, z.B. zu Brillen, Hörgeräten, Prothesen ist.

Doch genauso wichtig ist die Prävention von vermeidbaren Behinderungen. Harte Arbeit und Mangelernährung während der Schwangerschaft erhöhen das Risiko, ein behindertes Kind zu bekommen. Aber auch Defizite in der frühkindlichen Entwicklung, vor allem durch Mangel- und Unterernährung, können zu Behinderungen führen, die mit einfachen Maßnahmen vermeidbar gewesen wären.

Auch in den anderen Projekten wollen wir vermehrt daran arbeiten, frühkindliche Entwicklungsverzögerungen und Anzeichen von Behinderung zu erkennen.


Sommerinfo 2009:

Armut und Unterernährung führen zu Behinderung
Petra Bald

80 Prozent der körperlichen und/oder geistigen Behinderungen im stark dürrebetroffenen Distrikt Bankura sind armutsbedingt. Dort widmet sich die Kenduadihi Bikash Society der Früherfassung, Förderung und Integration von behinderten Kindern - und der Armutsbekämpfung.

Nach Ende der Monsunzeit ist Erntezeit, die einzige im Jahr. Menschen arbeiten auf den Feldern. Aber weit und breit kein sattes Grün wie in den anderen Regionen zu dieser Jahreszeit. Der Fluss führt nur wenig Wasser. Am Wegrand weiden Kühe das spärliche Gras. Wir sind mit Madhabi Mukherjee - äusserst kompetente und engagierte Sonderpädagogin, die die Arbeit mit ihrem Mann Uttam zu ihrer Lebensaufgabe gemacht hat - unterwegs im Projektgebiet. Wir begleiten sie und den Mitarbeiter Utpal Chatterjee zu Hausbesuchen in den Dörfern, in denen hauptsächlich Scheduled Castes und Adivasi leben.

Familie Aditya Mal
Vater Aditya Mal strahlt: Dank Bikash hat sein spastisch gelähmter Sohn Vivekananda große Fortschritte gemacht. Foto: Petra Bald

In Upishur leben Aditya und Shampa Mal mit ihren zwei Söhnen, dem siebenjährigen Vivekananda, der schwer spastisch behindert ist, und dem fünfjährigen Subhas. Zusammen mit den Eltern von Aditya lebt die Familie in einem kleinen, dunklen Lehmhaus mit Ziegeldach. Auf dem Vorplatz ist ein Berg Kohle aufgehäuft, die Aditya und Subhas zerhacken, um Kohlestaub zu gewinnen. Dieser wird in Säcke verpackt und auf dem Markt zur Feue-rung verkauft. So verschafft sich der Maurer, der gerade wieder einmal keine Arbeit hat, einen kleinen Verdienst. Shampa kann als Erntearbeiterin nur während der Ernte sehr unre-gelmässig 40-50 Rupien (ca. 0,80 €) am Tag dazuverdienen. Die Nahrung besteht vor allem aus dem magenfüllenden Puffreis, etwas Reis oder Kartoffeln, Fisch ist eine Seltenheit.

Vor dem Hauseingang steht ein Bettgestell mit einer durchlöcherten Einlage, auf der Vivekananda liegt. Ein Lächeln überzieht sein Gesicht, als ihn Madhabi anspricht. Utpal, der die Familie wöchentlich besucht, berichtet, dass Vivekananda inzwischen positiv auf Bezugspersonen und mit immer weniger Angst auf Fremde reagiert. Inzwischen gibt er auch Zeichen, wenn er Wasser lassen muss. Vor einem halben Jahr war das Bikash-Team bei einem Besuch im Dorf auf Vivekananda aufmerksam geworden. Sie konnten die Eltern motivieren, ihn zu einer Abklärung ins Bikash-Therapiezentrum zu bringen. Seither erhält er dort wöchentlich Physio-, Logo- und Ergotherapie. Seine Mutter wird angeleitet, ihren Sohn auch zuhause zu fördern. Bei den Hausbesuchen, die in einem Heft dokumentiert werden, geht es konsequent darum, die Familie für elementare Massnahmen im Alltag zu gewinnen: das Wasser vom Brunnen zu holen oder aktuell bei der westbengalischen Regierung einen Antrag für eine subventionierte Billigtoilette zu stellen, für die neben dem Haus Platz wäre.

An dem Beispiel wird deutlich, wie umfassend und nachhaltig die Arbeit von Bikash ist. Mangelernährte und geschwächte Frauen bekommen zu früh und in zu kurzen Abständen Kinder und können ihnen nicht die notwendige Ernährung bieten. Aberglaube ist weit verbreitet. Daher umfasst die Arbeit von Bikash, neben hochprofessioneller Behinderten- bis hin zur Berufsförderung, auch gezielte und systematische Aufklärungsarbeit sowie Gesundheits-, Hygiene- und Ernährungsförderung. Nur so kann langfristig armutsbedingter Behinderung vorgebeugt werden. In inzwischen acht Zentren vor Ort werden die Kinder in Gruppen gefördert, mit dem Ziel, sie (möglichst auch schulisch) zu integrieren. Bikash nutzt die vorhandenen Strukturen in den Dörfern wie Selbsthilfegruppen und arbeitet mit örtlichen Volunteers zusammen. 130 behinderte Kinder mit ihren Familien bis in die entlegensten Dörfer werden derzeit erreicht. Die Arbeit geht weiter.

Der Arbeitsausschuss der Indienhilfe hat für die Arbeit von Bikash im Jahr 2009-10 knapp 26.200 € bewilligt. Wir bitten um Ihre Spenden unter dem Stichwort „Bikash“!

Stellvertretend herzlichen Dank an die Weltläden Ingolstadt, Eichstätt und Weilheim für die Unterstützung des Projekts!


Indienhilfe-Herbstinfo 2008:

Bikash - ein Modell macht Schule: Weitere dörfliche Behindertenzentren im Bankura-Distrikt eröffnet
(Sabine Dlugosch)

Bikasch Bindi
Wo gehört der Bindi hin? Indienhilfe-Mitarbeiterin Sibani Bhattacharya traf bei ihrem Projektbesuch mit den behinderten Kindern zusammen, die von Bikash betreut werden. Foto: Sibani Bhattacharya

 

„Seht auf das, was wir k ö n n e n!“ - eine neue Einstellung gegenüber Behinderten macht sich im Projektgebiet von Bikash in einem der ärmsten Distrikte Westbengalens bemerkbar. Gerade wurde in zwei neuen Dörfern eine regelmäßige Behindertenbetreuung eingerichtet, auf Initiative der örtlichen Frauen-Selbsthilfe-Gruppen und mit Unterstützung der Dorfräte, ohne zusätzliches Geld von der Indienhilfe. Räumlichkeiten und Lehrmaterial stellt die Kommune, den Unterricht übernehmen Mitarbeiter der sechs bestehenden, von der Indienhilfe finanzierten, Zentren zusätzlich.

Der Neubau des Sonderpädagogischen Zentrums, der nur durch größte Anstrengungen unserer Unterstützer möglich wurde, wird voll genutzt: in den Therapieräumen finden von morgens bis abends Gruppen- und Einzeltherapie, Arbeitstherapie und Nachhilfeunterricht statt. Daneben betreibt Bikash Lobbyarbeit, klärt über die Rechte Behinderter auf, hilft bei der Beschaffung von Regierungshilfen, sensibilisiert für die Schwierigkeiten von Behinderten und ihren Familien und setzt sich für ihre Integration an den Schulen ein.

Was noch fehlt, ist eine Kurzzeitpflege-Station, in der Angehörige ihre behinderten Familienmitglieder temporär unterbringen können, um sie in familiären Notlagen (z.B. Krankheit oder Erschöpfung der pflegenden Angehörigen) zu versorgen. Auf Grund unseres finanziellen Engpasses übernehmen wir derzeit außer den Gehältern für eine Mindestzahl an Sonderpädagogen und Therapeuten für die Tageseinrichtung keine anderen Kosten. Nur mit Extra-Spenden und Zuschüssen könnten wir Bikash die Finanzierung des zusätzlich nötigen Pflegepersonals zusagen. Zusätzlich nötig wäre auch eine verstärkte Präventivarbeit, wie unsere Beraterin Sibani Bhattacharya aus dem Indienhilfe-Büro Kolkata bei ihrem Projektbesuch kürzlich feststellte.

Wir bitten um großzügige Spenden für Bikash! In diesem Jahr fehlen uns noch 10.000 € - spenden Sie unter dem Stichwort „Bikash“!


Sommerinfo 2008:

Weltläden und Spender finanzierten den Ausbau der Behindertenarbeit von Bikash
(Elke Chakraborty)

Im Februar war ich bei Bikash! Dieses Projekt mit eigenen Augen zu sehen, war für mich sehr spannend, nachdem wir Ingolstädter Frauen vom Freundeskreis Bikash die Leiterin Madhabi Mukherjee 2006 für einige intensive Tage bei uns zu Gast hatten.

Das Ehepaar Mukherjee hat mit Sachverstand und Hingabe in einem der ärmsten Gebiete Westbengalens eine Infrastruktur zur Identifizierung, Behandlung bzw. Förderung von oft mehrfach behinderten Kindern aufgebaut. Gleichzeitig bekämpft Bikash Unter- und Mangelernährung, fehlende Früherkennung, Unwissenheit, Scham und die alles überdeckende extreme Armut als Hauptursachen für gehäufte Behinderung. Seit 2006 finanziert die Indienhilfe die tägliche Förderung von derzeit 113 leicht bis mittelschwer behinderten Kindern in sechs Zentren für 28 Dörfer mit 25.000 Einwohnern. Dazu kommen seit einem Jahr die Personalkosten im Centre for Special Education in Bankura für die Therapie von 73 schwer behinderten Kindern.

Madhabi und ihr Team nehmen mich in drei Zentren mit. Die Aktivitäten in Khasbahar, Sanabandh und Uparsole laufen wirklich sehr gut! Überall fällt mir die freundliche Atmosphäre auf: Eltern, Mitarbeiter und Kinder zeigen Wertschätzung, Freude und Interesse aneinander. Die Kinder profitieren jedes auf seine Weise von den vielfältigen Möglichkeiten. Bei staatlichen Schulen und Kindergärten macht sich Bikash für die Integration der Behinderten stark. So kommen sie in den Genuss der staatlichen Schulspeisung. Gleichzeitig gibt die Integration Anreize zur Sozialisation, denn die Kinder imitieren das Verhalten der gesunden Kinder. In jedem Dorf gibt es einen integrierten Kinderklub - in Shombhupahari präsentieren mir die Kinder stolz ihren Biogarten und eine von ihnen bunt gezeichnete Ressourcen-Karte des Dorfes. Durchdrungen ist die dörfliche Arbeit Bikashs von den vielen aktiven Frauen der Selbsthilfegruppen, die der Motor der Entwicklung für die Dörfer und damit für die Behinderten geworden sind und die Lebensgrundlage der Familien durch Sparprogramme, Mikrokredite, Aufbau von Mini-Unternehmen und Küchengärten verbessern.

Am nächsten Tag schaue ich mir die Aktivitäten im Centre for Special Education an.

Wie an jedem Wochentag fährt um 11 Uhr ein gelber Bus mit 50 mittel- bis schwerbehinderten Kindern aus entfernten Dörfern vor; vielen muss beim Aussteigen geholfen, zwei müssen herausgetragen werden. Die meisten grüßen uns freudig. Der Bus wurde von einer englischen NGO gespendet und ist eine große Entlastung für die Familien. Die Indienhilfe zahlt den Fahrer.

Ich bin neugierig auf den Anbau, der 2007 von der Indienhilfe  finanziert wurde. Die Therapeuten nutzen die neuen Räume intensiv. An langen Tischen sitzen Behinderte beim Tütenkleben. Sechs taubstumme Jugendliche üben an Nähmaschinen, andere lernen auf der Veranda, leckere Chutneys zuzubereiten. Alle zeigen mir stolz ihre Werke. Es geht um das Erlernen sinnvoller Beschäftigungen für die Zeit nach Bikash. Junge Mädchen aus Bankura, die hier einen Computerkurs belegt hatten, helfen nun als Ehrenamtliche stundenweise bei der Betreuung. Ein gutes Beispiel für lebendige Integration!

Am meisten beeindruckt mich der Physiotherapeut Manab Sengupta bei der Balltherapie mit dem schwer spastisch gelähmten dreijährigen Bapa Das (s. Foto). Über einen sehr großen medizinischen Ball ist der zarte Junge gelegt, wobei der Therapeut die Füße festhält und das Kind bei verschiedenen Bewegungen seine Muskeln koordinieren und stärken übt. Ich bin tief bewegt von der jungen Mutter, die als Ko-Therapeutin eingesetzt wird. Sie hält dem Kind ein buntes flatterndes Plastikknäuel in Augenhöhe, mit dem Ziel, dass das Kind den Kopf danach hebt. Wie leuchten die Augen der Mutter, wenn ihr Bapa den Kopf kurz anhebt! Frau Das hat den Sari über den Kopf gelegt, der Mittelscheitel ist tief mit roter Farbe nachgezogen und der rote Punkt prangt groß auf der Stirn. Sie erzählt mir ihre Geschichte: Bapa ist ihr erstes Kind. Mit sechs Monaten merkte sie, dass etwas nicht stimmt. Sie suchte einen Arzt in Kalkutta auf, der eine "Zerebrale Lähmung" diagnostizierte. Aufgrund ihrer Armut konnte sie in Kalkutta keine Hilfe in Anspruch nehmen. Als Bapa 1 ½ Jahre alt war, erfuhr Frau Das über ihre Tante vom Centre for Special Education. Zu Beginn der Behandlung konnte sie das Kind nur auf den Händen tragen, weil Bapa keine Muskelkontrolle an Hals und Kopf hatte und die Beine in sich verdreht waren. Seit die beiden regelmäßig ins Zentrum kommen, hat das Kind gute Forschritte gemacht.

Ein behindertes Kind zu haben ist immer ein schweres Schicksal. Doch während in Deutschland behinderte Kinder frühestmöglich gefördert werden, schrieb im Distrikt Bankura bisher die extreme Armut den Status Quo der Behinderung fest - bis Bikash aufgebaut wurde. Ich werde die traurigen und doch hoffnungsvollen Augen der vielen Mütter nicht vergessen, die in ihrer Armut und im täglichen Überlebenskampf in Bikash einen Anker gefunden haben für ein positives Leben mit ihren behinderten Kindern.

Schaue ich in die Zukunft von Bikash, so denke ich, das Team ist auf einem guten Weg. Aber für Madhabi Mukherjees Vision eines Kurzzeitpflegeheims zur Entlastung der Mütter fehlt immer noch das Geld. Der Anbau ist dank der Indienhilfe geschafft, aber die Kosten für Personal, Einrichtung und Essen sind noch nicht abgedeckt. Deshalb bitten wir weiterhin um vermehrte Spenden für Bikash und die Förderung der behinderten Kinder.

Für 2008-09 werden 16.685 € für die sechs Dorfzentren und das Zentrum in Bankura benötigt. Dies deckt nur ein Minimum an Personalkosten ab. Spenden bitte unter dem Stichwort "Bikash"!